Democratic Backsliding
Demokratieabbau, meist in kleinen Schritten und zunächst kaum merklich
Rätsel: Warum werden die entsprechenden Regierungen wiedergewählt, obwohl weiterhin große Mehrheiten (in Umfragen) die Demokratie unterstützen?
- Gesellschaftliche Polarisierung: Bürger müssen zwischen “parteilichen” Interessen und demokratischen Prinzipien abwägen
- Polarisierung macht Vorrang ersterer wahrscheinlicher
- wird deshalb von den Entdemokratisierern vorangetrieben
Welcher gesellschaftliche Faktor begünstigt „democratic backsliding“?
Studie von Milan Svolik
- Zufällig ausgewählte Wähler (u.a. aus den USA, Türkei, Venezuela) erhalten Wahl zwischen zwei fiktiven Kandidat:innen
- Kandidaten haben persönliche Charakteristika und politische Inhalte
- Zufällig werden den Kandidaten demokratiefeindliche Pläne zugeschrieben

Ergebnisse:
- Die meisten Wähler sind zuerst “partisans”, erst danach Demokraten
- Demokratiefeinde werden abgestraft, aber inhaltliche Polarisierung reduziert diese Abstrafung
- Wähler mit zentristischen Positionen strafen antidemokratische Positionen stärker ab
- methodisch: Umfragen, die nach Unterstützung der Demokratie fragen, sind wenig aussagekräftig (soziale Erwünschtheit)
- realer Wert der Demokratie zeigt sich in der Abwägung mit parteilichen Zielen
Polarisierung
- ideologisch / themenbezogen: großer Abstand der Idealpunkte
- affektiv (emotional) / gruppenbezogen: Gefühle der Abneigung und des Misstrauens gegenüber Gruppen, die politisch anders denken
- z.B. USA: 33% der Demokraten / 49% der Republikaner lehnen für ihre Kinder Ehepartner der anderen Partei ab (Anfang der 1960er Jahre: 4% bzw. 5%)
- Wie ist Demokratie möglich, wenn sich Bürger auf Basis starker Gruppenidentitäten feindselig gegenüber stehen? Literatur zu “gespaltenen” Gesellschaften
Es werden zwei Arten politischer Polarisierung unterschieden. Nennen sie diese!
”Gespaltene” Gesellschaften
- Häufig Fokus auf ethnisch gespaltene Gruppen: gemeinsame Herkunft aufgrund von Sprache, Religion, äußerlichen Merkmalen, Geschichte, etc.
- Vielfalt ist nicht dasselbe wie Spaltung: Spaltung entsteht, wenn Gruppenzugehörigkeiten politisch sehr bedeutsam (politisiert) sind
- z.B. Australien und Kanada gelten als ethnisch vielfältig, aber nicht gespalten
Zwei einflussreiche Modelle für Demokratien und “gespaltenen” Gesellschaften:
- Konkordanzdemokratie / “consociational democracy” (Lijphart)
- Zentripetalismus (Horowitz)
Konkordanzdemokratie
Annahme: Gesellschaftliche Konfliktlinien und Gruppenidentitäten werden harmloser für die Demokratie, wenn sie sich überkreuzen (cross-cutting cleavages, z.B. religiöser Gewerkschafter)
- dies führe tendenziell zu moderaten Ansichten und somit zur Schwächung politischer Konflikte
- Stabilisierung auf der Ebene der politischen Massen
Problem: Funktioniert aber nicht, wenn soziale Konflitklinien “parallel” verlaufen und sich gegenseitig verstärken / oder wenn Gruppen sozial voneinander abgeschottet sind
- “gespaltene” / “segmentierte” / “divserse” Gesellschaften (divided societies)
- Gruppen können zu antagonistischen “Lagern” werden Gefahr der politischen Gewalt und letztlich des Bürgerkriegs
Die Konfliktlinien zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen können parallel oder quer zueinander verlaufen.
- Welcher Verlauf trägt nach einer verbreiteten Auffassung zur Stabilisierung der Demokratie bei?
- Erfolgt diese Stabilisierung dann auf der Ebene der Wähler oder der politischen Eliten?
- Welcher Wirkungsmechanismus wird dabei angenommen?
Beispiel Niederlande
Laut Lijphart u.a. Konkordanzdemokratie von 1917 bis in die 1960er Jahre
- Drei oder vier Lager / “Säulen”: Katholiken, Protestanten, Sozialisten / Sozialdemokraten (und liberal-säkulare Gruppe)
- jeweils eigenen Parteien, Gewerkschaften, Berufsorganisationen, kulturelle Organisationen, Medien, Schulen, etc.
- Versäulung: Gegenseitige Abschottung der Lager (z.B. katholisches Leben von der Wiege bis zur Bahre)
Lösung
These: Wenn soziale Heterogenität nicht auf der Ebene der politischen Massen (Wähler) “ausgeglichen” werden kann, dann kann dies auch auf der Ebene der Eliten geschehen
- diese müssen vom demokratischen Wettbewerb (auf Basis der Mehrheitsregel) auf Kooperation umschalten
- ähnlich zur Befriedung zwischenstaatlicher Konflikte
4 notwendige Bedingungen / Elemente (Lijphart):
- (Über-)große Koalition (grand coalition), alle wichtigen Gruppen werden einbezogen
- Proportionalität in Wahlsystem, Ämter- und Ressourcenverteilung (proportionality)
- Gegenseitiges Veto (mutual veto) bei wichtigen Fragen
- Segmentelle Autonomie (segmental autonomy), z.B. bei Schulen
- Hintergrundbedingung: “segmentierte” Gesellschaft
Zum Konzept der Konkordanzdemokratie:
- Nennen Sie deren vier notwendigen Bedingungen sowie die Hintergrundbedingung laut Lijphart.
- Geben Sie ein Beispiel für ein Land, das zumindest zeitweise als Konkordanzdemokratie klassifiziert wurde.
Konkordanz in Nordirland
Einflussreichster Fall in der neueren Konkordanz-Literatur
- Seit 1969 gewalttätiger Konflikt zwischen den irischen Republikanern und der britischen Armee sowie britischen Loyalisten (Unionisten), die im Königreich bleiben wollen
- über 3.000 Tote und 50.000 Verletzte
- irische Nationalisten sehen Katholiken in Nordirland strukturell benachteiligt und diskriminiert (segregierte Arbeitsmärkte, Nachbarschaften, etc.)
- Beginn der Konkordanz mit Belfast (“Good Friday”) Agreement 1998
- danach mehrmals modifiziert und zeitweise ausgesetzt
- Regionalparlament mit Verhältniswahl
- Exekutive als Zwangskoalition:
- Abgeordnete müssen sich einsortieren: “nationalist” / “unionist” / “other”
- muss nationalistische und unionistische Minister enthalten
- größte Partei bekommt Premierminister, größte Partei der anderen Community bekommt Stellvertreter: gleiche Macht, gemeinsame Entscheidung, bei Rücktritt eines fällt die ganze Regierung
- weitere Ministerien werden (grob) proportional verteilt
- bestimmte Entscheidungen müssen mit cross-community support getroffen werden Vetorecht für die jeweiligen Communities
Zum Beispielfall Nordirland:
- Nach welchem Modell der Befriedung gespaltener Gesellschaften wurde der gewaltsame Konflikt in Nordirland beigelegt?
- Welches Wahlrecht (Grundtyp) wird in der Regionalversammlung Nordirlands angewendet?
- In welche drei Gruppen müssen sich Abgeordnete in Nordirland selbst einsortieren?
Kritik
- Elitendominanz, dadurch Einschränkung der Demokratie
- Vernachlässigung / Heruntergewichtung anderer Interessen (z.B. gleichgeschlechtliche Ehe 2015 in Nordirland durch ethnisches Veto der Unionisten gekippt)
- Führt das Modell nicht zur Verstärkung und zum “Einfrieren” von Gruppenidentitäten?
- gibt jeder Gruppe als Gruppe politische Macht und fördert so ggf. deren Fortbestehen
Nennen Sie einen Kritikpunkt am Modell der Konkordanzdemokratie.
Zentripetalismus
Ziel: Depolitisierung von Gruppenidentitäten (Abschwächung ihrer politischen Bedeutung)
- Fokus auf Institutionen, die zur Suche nach Wählerstimmen jenseits der eigenen (ethnischen) Gruppe führen (vote pooling)
- vor allem durch das Wahlsystem, z.B. Alternativstimmensystem
- Parteien / Kandidaten müssen Angebote an andere Gruppen machen
- nicht-ethnische oder multi-ethnische Parteien (die nicht nur ihr eigenes Gesellschaftssegment repräsentieren)
Kritik
- Selbst wenn man die Ziele der Depolitisierung teilt, sei die Verhältniswahl besser als das Alternativstimmensystem
- Verhältniswahl ermöglicht zwar Bildung ethnischer Parteien
- Verhältniswahl ermöglicht aber auch Bildung nicht-ethnischer und multi-ethnischer Parteien (Alternativen)
Beispiele:
- Pro: Katalanische Wähler in Spanien stimmen nicht nur für die separatistischen Regionalparteien, sondern z.B. auch für die Sozialdemokraten
- Contra: In Belgien gibt es jede Partei doppelt (flämisch und wallonisch)
Nennen Sie einen Kritikpunkt am Modell des Zentripetalismus.
Stand der Diskussion
- Streit zwischen den beiden Strategien geht weiter | Studienlage nicht eindeutig
- Zunehmend Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Kombination beider Modelle
Die Stabilisierung der Demokratie in (ethnisch) gespaltenen Gesellschaften wird in der Politikwissenschaft als Problem angesehen.
- Nennen Sie zwei prominente Strategien oder Modelle zur Lösung dieses Problems.
- Erläutern Sie kurz, wie sich die Stoßrichtung dieser Strategien in Bezug auf den Umgang mit unterschiedlichen (ethnischen) Gruppen unterscheidet.
- Welches Wahlsystem lässt sich jeweils den beiden Strategien zuordnen?
- Welcher Parteientyp lässt sich den beiden Strategien jeweils zuordnen?